Die Liebe zum Detail... im Training

oder: Warum biomechanisches Grundwissen im Pferdetraining so wichtig ist

Unter dem Hashtag #therapeutenduoincrime haben Hanna @scotti_licious - Pferdephysio-Kollegin und Freundin aus Osnabrück - und ich bei duunddeinpferd_frauschlemmi eine kleine Reihe auf Instagram eröffnet und hangeln uns von Theorie zur Praxis, Häppchen für Häppchen.

In der Hoffnung, noch mehr Pferdemenschen dafür zur begeistern, sich mit den muskulären Voraussetzungen ihrer geliebten Reittiere auseinander zu setzen - mit dem Ziel, sich mit etwas Hintergrundwissen immer für ein gesundes, für den Pferdekörper tragbares (!), Training zu entscheiden. 

Let's go.

(Hanna) In meiner Ausbildung zur Pferdephysiotherapeutin habe ich mich zum ersten Mal so richtig intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und war erstaunt, was ich in dem vermeintlich guten Reitunterricht in den letzten 25 Jahren nicht gelernt hatte. Einigen Pferden habe ich sicherlich Unrecht getan oder womöglich eher geschadet als ihnen mit ihren körperlichen Schwächen reell geholfen zu haben.

Viele Reiterinnen kennen es. Das Pferd leidet unter Rückenschmerzen, zieht beim Putzen die Kruppe weg oder zeigt an anderen Körperstellen Unwohlsein an, verwirft sich beim Training im Genick, gibt vielleicht einen Huf ungerne… Die Liste der Symptome ließe sich vermutlich unendlich fortführen. Reitpferde leiden häufig unter Schmerzen oder an Verschleiß z.B. in Form von Arthrose. In der Folge wird das Tier dann häufig "weggestellt" und ein neuer "Sportpartner" muss her. Einige dieser Probleme könnten mit einem Training unter biomechanischen Gesichtspunkten sicherlich aufgeschoben oder aufgehoben werden.

Gutes Training ist also immer Prävention! Denn geeignete Lektionen (mit dem richtigen Aufbau) können das Pferd an den richtigen Stellen kräftigen, gymnastizieren, Formen, das Selbstbewusstsein stärken und vor allem bis ins hohe Alter gesunderhalten. Das bedeutet für uns wiederum viel Spaß und Freude mit einem ausgeglichenen und motivierten Pferd. Was definitiv für Pferd und Mensch ein Gewinn ist.

(Annika) Beim Training auf biomechanische Grundsätze zu achten, bedeutet eben nicht nur, mein Pferd "an die Hilfen zu stellen" (wenn man das überhaupt so sagen kann..) und es nicht in der Bewegung zu stören wenn ich draufsitze. Sondern viel mehr: Mein Pferd soll in Sachen Koordination und Muskelkraft dahin gebracht werden, sich selbst so tragen zu können, dass nicht der Knochenapparat und seine Gelenke (Schwer-)Kräfte abfangen müssen, sondern die Muskulatur ganz gezielt arbeitet. Sie soll den Rumpf des Pferdes (zwischen den Vorderbeinen) aktiv anheben sowie Landungen abzufangen, um damit die Gliedmaße zu entlasten. Ebenso soll die Bewegung, die in der Hinterhand erzeugt wird, nach vorne ungehindert weiter fließen können, ohne auf dem Weg dorthin – durch Verspannung, Blockaden oder sonstige Kräfte (rückwärts wirkende Reiterhand, schlecht sitzender Sattel oder Reiter...) – ausgebremst zu werden.


Und erst wenn es dazu in der Lage ist, sich selbst in seiner eigenen Bewegung in Balance zu bewegen und seine Muskulatur!! und NICHT nur das Skelett zum Tragen, Abfedern und Schwung entwickeln zu benutzen – dann kann ich überhaupt erst daran denken, mich auf den Rücken zu setzen.
Denn damit mute ich dem Pferd in dem Moment weiteres Gewicht, zusätzliche (weitestgehend unbeeinflussbare) Kräfte und Bewegungen zu.

Trainiere ich nicht entsprechend vor, müssen die Bänder und Gelenk-Knorpelflächen das halten, was die Muskeln ohne Training nicht können.

Soweit, so klar? Hast Du sowas mal in der Reitschule gelernt?

Welche Muskulatur soll ich denn beim Pferd gezielt schulen, damit es sich physiologisch gesund bewegt und nicht die Haltestrukturen überbelastet?

    Der Rumpf soll sich anheben, damit die thorakale Muskelschlinge, die den Rumpf vertikal zwischen den Schulterblättern "hält", ihn in der schwunghaften Bewegung stets auf und ab federn lässt und damit als Stoßdämpfer dient, nicht bei jedem Auffußen (über-)belastet wird.
    Und damit die Wirbelsäule nicht zusätzlichen Scherkräften (durch ihre geschwungene Form im Raum ist sie an einigen Stellen besonders anfällig dafür) ausgesetzt ist.
    Die Wirbelsäule bildet nämlich zwischen Vorder- und Hinterbeinen – ebenso wie die thorakale Muskelschlinge zwischen Schulter und Oberarmen – quasi eine "Hängebrücke".
    Wenn wir hier nämlich die Scherkräfte (Bild 3) durch ein muskuläres Aufwölben der Wirbelsäule verhindern, kommt überhaupt erst die Bewegung, die durch die muskulär bepackte "Motor"-Hinterhand erzeugt wird, (im Takt!) vorne an.

    Klingt alles total theoretisch? Ok, schon ein wenig. Aber das ist wirklich wichtig! Also versuchen wir es etwas praktischer (naja, und mal etwas abgekürzt..).

    • Trainierte Bauchmuskeln helfen, den Rücken aufzuwölben. Wir verhindern, dass die Dornfortsätze der Brust- und Lendenwirbelsäule sich küssen, und heben zugleich den gesamten Rumpf an. Bauchmuskeln trainieren wir mit: (An-)Galoppieren, Stangen- und Cavalettiarbeit, und später mit so ziemlich jeder Übung, Last durch die Hinterhand aufnehmen zu lassen
    • Mindestens genauso wichtig sind die Sägemuskeln, die Brustmuskeln, der Kapuzenmuskel, Trapezmuskel, die Pomuskeln. Insbesondere Säge- und Brustmuskulatur sollten arbeitsfähig und geschmeidig sein, um den Rumpf vorne anheben zu können. Um diese zu nutzen (= zu trainieren), sollte das Pferd in der Bewegung den Kopf locker vor der Senkrechten und weder zu hoch noch zu tief tragen. Insbesondere aber, muss die "Balancierstange" Hals funktionieren können – sonst können Säge-, Kapuzen- und Trapezmuskel nicht arbeiten. Sprich: Bloß keine störende Handeinwirkung oder so genannte Hilfszügel!

    (Hanna) Scotti hatte zum dritten Geburtstag einen doppelten Schaden am Fesselträgerursprung. Der Fesselträger hat seinen Ursprung, vereinfacht gesagt, am oberen Teil des Röhrbeins, verläuft hinter diesem Richtung Gleichbeine und teilt sich dort in zwei Stränge. Seine Hauptfunktion ist seinem Namen nach die Fessel zu halten. Außerdem ist es seine Aufgabe, gemeinsam mit der Tiefen- und Oberflächlichenbeugesehne, die Körpermasse in der Stützbeinphase zu tragen und ein tiefes Durchfesseln zu vermeiden. Da sind wir schon beim Hauptproblem angelangt. Die drei Strukturen tragen gemeinsam die ganze Last. Was ist, wenn die Strukturen oberhalb des Karpalgelenks nicht mehr voll funktionstüchtig sind und ihren Teil zur Stoßdämpfung nicht mehr beitragen können?

    Ich fing an Scotti zu behandeln. Was Scotti mir da mitgeteilt hat? Aua, das tut mir weh, ich beiße dich mal… tagelang durfte ich auf seiner rechten Seite nicht die Schulter-, Oberarm- und Unterarmmuskulatur anfassen. Ich hatte schon mal die Schmerzgrenze meines Pferdes kennengelernt und sie lag nicht so hoch... Nach vielen Wochen mit kleinen Behandlungen konnte Scotti sich erst richtig fallen lassen und durch die Massage die Muskeln lösen. Auch die Tests, um die Beweglichkeit der einzelnen Gelenke zu erkennen, waren gruselig schlecht. Ich habe ihn also über Monate sehr regelmäßig behandelt. Das Problem ist vermutlich nicht der Fesselträger an sich gewesen, sondern die hypertone Muskulatur oberhalb, die sich vom Widerrist zum Karpalgelenk durchzog. Die gesamte Struktur oberhalb hat sich so fest gemacht, dass die Schulter und das Karpalgelenk ihrer natürlichen Funktion der Stoßdämpfung nicht mehr nachkommen konnten. Alles saß fest.

    Auch heute kämpft er immer wieder mit Verspannungen in diesen Bereichen. Was bedeutet das denn nun für unser Training? Erstmal ist für mich klar: Geritten wird nur, wenn mein Pferd 100 % fit ist und ich ihm durch mein eigenes Körpergewicht nicht noch mehr Belastung zumute. Für die restliche Zeit: Gymnastizierende Bodenarbeit!